Hamburger Abendblatt
Jeden Tag machen 5000 Hamburger blau.
Mehr Kontrollen. 50 Prozent aller Einsätze der Detekteien richten sich gegen Simulanten.
Von Miriam Opresnik
Sie prellen die Wirtschaft um Millionen, belasten Kollegen, treiben die Krankenkassensätze in die Höhe: Blaumacher. Etwa 5000 Hamburger machen täglich Urlaub auf Krankenschein, gehen nicht arbeiten, obwohl sie gesund sind, schätzt Herbert Schulz (52), Vorstand der Betriebskrankenkasse (BKK) Hamburg. Schulz: "Rund 50000 Menschen in Hamburg sind täglich arbeitsunfähig, das entspricht einem Krankenstand von 7,4 Prozent." Hamburg ist hinter Berlin Spitzenreiter. Zum Vergleich: Der Bundesdurchschnitt liegt bei 3,43 Prozent. Der Schaden ist erheblich.
"Allein in Hamburg verursachen Blaumacher jährlich Kosten von 200 Millionen Euro", sagt Schulz. Der bundesweite Schaden gehe in die Milliarden. Unternehmen machen verstärkt Jagd auf die Pseudo-Kranken: Sie lassen Verdächtige von Detektiven überwachen, von Krankenschwestern kontrollieren oder schalten den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein. Im Auftrag von Kassen und Arbeitgebern erstellt der MDK ein ärztliches Gutachten und überprüft, ob die krankgeschriebenen tatsächlich arbeitsunfähig sind. Die Ergebnisse des MDK Hamburg sind erschreckend: "Von 250 Patienten, die wir monatlich überprüfen, sind 100 arbeitsfähig - obwohl sie krankgeschrieben sind", sagt GeschäftsfÜhrer Jörg Sträter (59). Das sind rund 1200 Scheinkranke pro Jahr. Die Situation auf Bundesebende sieht nicht besser aus: Nach Angaben der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände enttarnte der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) im Jahr 2000 mehr als 106 000 von 427 000 Untersuchten als Simulanten. Das heißt: Jeder vierte Krankgemeldete war zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht arbeitsunfähig.
"Dabei entlarvt der Medizinische Dienst längst nicht alle Blaumacher", sagt Herbert Schulz, Kassenvorstand der BKK Hamburg. Deshalb will die Krankenkasse Blaumachern jetzt selbst das Handwerk legen. "Wir schicken examinierte Krankenschwestern zu den Patienten nach Hause und lassen die Krankschreibung überprüfen", sagt Schulz. Sollten die BKK-Mitarbeiter Zweifel an der Krankschreibung haben, werden die Betroffenen zu einem Gespräch gebeten. Oft erfolge dann, so Schulz, eine Spontanheilung.
Unterstützung bekommen Firmen bei der Jagd auf Blaumacher von Detekteien. Nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Detektive (BDD) werden die Ermittler immer häufiger auf Blaumacher angesetzt. Rund 30 Prozent aller Aufträge der bundesweit 1320 Detekteien sind laut BDD so genannte Krankenstandsüberwachungen. "In Hamburg macht der Bereich ,Lohnfortzahlung im Krankheitsfall' sogar rund 50 Prozent aus", sagt Kay Haselhorst (40), Geschäftsführer des Hamburger Verbandes der Detektive. Obwohl die Krankenstände seit Jahren zurückgehen, sind seine Auftragsbücher voll. "Schwarze Schafe gibt es immer - die hält auch die schlechte wirtschaftliche Lage nicht vom blaumachen ab", sagt Haselhorst. Allein seine Detektei rückt jährlich zu fast 300 Blaumacher-Überwachungen aus - meistens mit Erfolg. "In 50 Prozent der Fälle bestätigt sich der Verdacht", sagt Haselhorst.
In diesen Fällen heißt es meist: observiert und abserviert. "Die Mitarbeiter werden entlassen oder unterschreiben einen Auflösungsvertrag", sagt Haselhorst. "Es handelt sich um Betrug, und das rechtfertigt eine fristlose Kündigung", sagt Christian Lesmeister (51), Richter am Arbeitsgericht. Oftmals würden die Blaumacher nicht nur entlassen, sondern müssten auch noch die Kosten für den Detektiv zahlen. Bei einem Stundenlohn von 50 bis 75 Euro und einer Überwachungszeit von bis zu drei Tagen kommen schnell ein paar Hundert Euro zusammen. Mitleid mit den Überführten haben Haselhorst und sein Mitarbeiter Roger Grössl (42) nicht: "Die Leute nutzen unser soziales Netz brutal aus - wir müssen ihnen das Handwerk legen."
Im Visier sind nicht nur Blaumacher, sondern auch deren "Komplizen": Ärzte, die die Simulanten vorschnell oder gar wissentlich falsch krankschreiben. "Wir wollen diese Ärzte in Regress nehmen, von ihnen das Krankengeld zurückfordern", sagt Herbert Schulz. Die Staatsanwaltschaft werde in solchen Fällen eingeschaltet.
Die Ärztekammer reagiert mit Befremden auf das Vorhaben der BKK. "Der Versuch, Ärzte für das Fehlverhalten einzelner Simulanten in Regress zu nehmen, ist aberwitzig", sagt Präsident Dr. Michael Reusch (48). "Liegt ein begründeter Verdacht auf Missbrauch vor, prüft die Ärztekammer diesen und leitet gegebenenfalls disziplinarische Maßnahmen ein."